Litauendeutsche in den Personenstandsregistern der Stadt Salzgitter

von Tobias Mayer, Berlin 2025.

(Lithuanian-Germans in the Civil Registers of the City of Salzgitter - by Tobias Mayer)

Mayer, T. (2025). Litauendeutsche in den Personenstandsregistern der Stadt Salzgitter (Version 1). Zenodo. https://doi.org/10.5281/zenodo.14747670

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Einleitung

Im Jahr 2024 wertete ich insgesamt 13 Tage im Stadtarchiv Salzgitter die standesamtlichen Personenstandsregister (Signatur: E 340) mit abgelaufenen Schutzfristen aus: die Sterberegister bis 1993 und die Heiratsregister bis 1943. Das Interesse galt den ab 1941 nach Salzgitter zugezogenen evangelisch-lutherischen Deutschen aus Litauen.

Salzgitter ist meine Geburtsstadt. Meine Mutter und mein Onkel sind noch in Wischtiten geboren. Etwa 150 Jahre – bis zur Flucht 1944 – lebten die Vorfahren der Familien Weber und Meyer in der Suvalkija, vor allem in den Gemeinden Wischtiten (lt. Vištytis), Wirballen (Virbalis) und Wilkowischken (Vilkaviškis). In meiner Kindheit in den 1970er und 1980er Jahren war die Erinnerung an die „alte Heimat“ durch Großeltern, Großtanten und Großonkel noch sehr präsent. Oft besuchten wir die Gottesdienste im „Saal“, dem Versammlungshaus des Evangelisch-Lutherischen Evangelisations- und Gebetsvereins in der Marienbruchstraße in Lebenstedt. Ihre Gründungsmitglieder 1950 stammten fast alle aus Litauen. Sie führten hier ihre strenge pietistisch geprägte religiöse Praxis weiter, die sie schon in Litauen zusammengebracht hatte. Die Bewegung geht auf den ostpreußischen Prediger Christoph Kukat zurück (Christoph Kukat - Wikipedia). Nur ein kleinerer Teil der Deutschen aus Litauen ging in Lebenstedt regelmäßig in den „Saal“, doch der Gebetsverein war eines wenigen sichtbaren Elemente litauendeutschen Lebens in Salzgitter.

Die Geschichte der Salzgitteraner Neubürger aus Litauen ist – soweit ich sehe – bislang nicht wissenschaftlich bearbeitet worden. Die folgende Einführung zu den indizierten Registern litauendeutscher Sterbefälle in allen Ortsteilen der Flächenstadt Salzgitter 1941 bis 1993 kann das nicht leisten, aber die Personenstandsregister zeigen eindrücklich, wie bedeutend Salzgitter, insbesondere der größte und nach dem Krieg schnell wachsende Stadtteil Lebenstedt, als neue Heimat einer alten deutschen Diaspora-Gemeinschaft wurde.

Die rund 50.000 Volksdeutschen aus Litauen wurden nach einem Vertrag zwischen dem nationalsozialistischen Deutschen Reich und der Sowjetunion in den ersten drei Monaten des Jahres 1941 umgesiedelt. Sie wurden auf Lager verteilt, die verstreut über den ganzen Osten des Deutschen Reiches lagen. Etwa 20.000-25.000 dieser Personen kehrten nach dem Überfall auf die Sowjetunion 1942/1943 im Schatten der Wehrmacht zurück nach Litauen, um schließlich 1944 in der letzten Phase des 2. Weltkrieges vor der anrückenden Roten Armee zu fliehen. Die meisten sahen das Land ihrer Vorfahren nie wieder. Nur wer den Untergang der Sowjetunion 1990 miterlebte, hatte die Chance, die Heimatorte in Litauen noch einmal zu besuchen.

Zur wechselvollen Geschichte der litauendeutschen Gemeinschaft sei hier auf folgende Publikationen hingewiesen:

·      Harry Stossun: Die Umsiedlungen der Deutschen aus Litauen während des Zweiten Weltkrieges. Untersuchungen zum Schicksal einer deutschen Volksgruppe im Osten. Marburg/Lahn 1993

·      Gustav Wagner: Die Deutschen in Litauen. Ihre kulturellen und wirtschaftlichen Gemeinschaften zwischen den beiden Weltkriegen. Marburg/Lahn 1959

Eine ausführliche Literaturliste steht auf der Webseite der Arbeitsgemeinschaft Ostdeutscher Familienforscher (AGOFF): Forschungsgruppe Litauen – Schrifttum – AGOFF (14.01.2025). Eine kurze Einführung zum Thema aus der Perspektive der Familienforschung findet man auf der Webseite der International Association of Germans from Lithuania: Who Were the Germans from Lithuania? — International Association of Germans from Lithuania (14.01.2025).

Nach der so genannten „Durchschleusung“ durch spezielle Kommissionen der Einwandererzentralstelle in den Lagern der Volksdeutschen Mittelstelle (vgl. Markus Leniger: Nationalsozialistische „Volkstumsarbeit“ und die Umsiedlungspolitik 1933-1945. Berlin 2006) wurden viele Litauendeutsche im Anschluss an ihre Einbürgerung Mitte 1941 nach Salzgitter geschickt. Hier setzte man sie als Arbeitskräfte in der Rüstungsindustrie ein (Stossun, Umsiedlungen, S. 148).

1937 waren in Salzgitter die „Reichswerke Hermann Göring“ gegründet worden. Der Stahlkonzern (heute: Salzgitter AG) sollte innerhalb weniger Jahre zu einem der kriegswirtschaftlich wichtigsten Industriestandorte im Deutschen Reich wachsen. Volksdeutsche Umsiedler aus Litauen, dem Buchenland oder Wolhynien fanden „in der Hütte“ oder in Zulieferungsbetrieben, als selbständige Handwerker oder im Dienstleistungssektor eine reguläre Arbeit.

In Salzgitter kamen mehrere tausend Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene in Folge der katastrophalen humanitären Bedingungen zu Tode. Eigens für die Reichswerke wurde in Salzgitter-Watenstedt, eigentlich ein Dorf von nur wenigen hundert Einwohnern, in dessen Umgebung sich das Hüttenwerk und die zugehörigen Lager befanden, ein Standesamt eingerichtet. Die Sterberegister von Watenstedt (Stadtarchiv Salzgitter E 340, Nr. 373 bis 382) allein verzeichnen zwischen 1942 und 1949 mehr als 4.300 Todesfälle von verschleppten Menschen aus allen Teilen Europas. Beinahe die Hälfte davon starb nach dem Ende des Krieges, die Lebensbedingungen in den Lagern besserten sich zunächst kaum. Die Repatriierung der Menschen verzögerte sich oder fand aus verschiedenen Gründen gar nicht statt. Erst ab 1949 wurden die Barackenlager nach und nach geschlossen bzw. in regulären Wohnraum für Vertriebene umgewandelt. (Siehe dazu: Zwangsarbeit in den Hermann-Göring-Werken – Wikipedia und Liste der Wohn- und Arbeitslager im Salzgittergebiet – Wikipedia mit weiteren Verweisen und Literaturhinweisen.)

Wie viele Personen, die in Litauen geboren wurden, bereits 1941 bis 1944 aus den Umsiedlungslagern den Weg nach Salzgitter fanden, ist nicht genau bekannt. Die erste Hochzeit zweier Deutscher aus der litauischen Suvalkija-Region (das ist das Gebiet östlich des ehemaligen Ostpreußens) fand am 15.11.1941 in Salzgitter-Lebenstedt statt, Eduard Otto Loschwitz heiratete Ida Wanda Hintz, beide aus Wilkowischken und Umgebung. Der erste litauendeutsche Todesfall in Lebenstedt war der Säugling Irena Serapin am 29.11.1941, geboren im Dezember 1940 noch in Tauroggen, einer Stadt in Litauen nördlich des Memelgebietes.

Bis Ende 1944 starben 13 Deutsche aus Litauen in Salzgitter (11 in Lebenstedt, 1 in Salzgitter-Bad, 1 in Lichtenberg). 10 von ihnen stammten aus dem Gebiet um Tauroggen, nur 3 aus der Suvalkija. Das ist insofern erklärlich, da der Anteil der Menschen aus Tauroggen, die nach der „Durchschleusung“ bzw. Einbürgerung in den Lagern 1941 ins „Altreich“ geschickt worden waren, deutlich höher war als bei den Suvalkija-Deutschen (Stossun, Umsiedlungen, S. 139). Diese waren zum größeren Teil für die Rücksiedlung für den Neuaufbau einer bäuerlichen Gemeinschaft in Litauen unter deutscher Dominanz vorgesehen (vgl. Stossun, Umsiedlungen, S. 155ff., Generalplan Ost - Wikipedia).

Nachdem Litauen nach der Besetzung durch die Rote Armee im Sommer 1944 wieder Sozialistische Sowjetrepublik geworden war und fast alle Deutschen das Land verlassen hatten, wurde Salzgitter (vor allem Lebenstedt) schließlich zu einem der Hauptziele der litauendeutschen Flüchtlinge.

Warum das so war, hat sicher mehrere Gründe. Nachdem schon während des Krieges viele nach Salzgitter gekommen waren, weil sie aus den Umsiedlungslagern direkt ins Industriegebiet im Südosten Niedersachsens geschickt wurden, entwickelte sich offenbar eine Eigendynamik. Man strebte dorthin, wo schon Bekannte oder Verwandte angekommen waren, wo es Arbeit gab und die Möglichkeit, sich ein neues Leben aufzubauen. Salzgitter nahm die Flüchtlinge auf. Eine Ansammlung von kleinen Dörfern wuchs zur Arbeiterstadt.

In einem Neubaugebiet für die Neu-Salzgitteraner bekamen zwei Straßen die Namen von bekannten Deutschlitauern. Der Propst-Tittelbach-Weg ist benannt nach Paul Tittelbach, der aus dem Kurland stammte und von 1892 bis 1944 in verschiedenen Ämtern und Funktionen als Pfarrer und Lehrer in Litauen wirkte (A. G. Žemaitaitis: Kurzbiographie von Paul Tittelbach, in: Annaberger Annalen 26/2018, S. 37-39). Der Rudolf-Kinder-Ring erinnert an Rudolf Kinder (lit. Rudolfas Kinderis), einen völkisch-national gesinnten Politiker und litauischen Staatsbürger, Gründungsmitglied der Partei der Deutschen Litauens, Mitglied der Verfassungsgebenden Versammlung Litauens 1920 und später viele Jahre Vertreter der deutschen Minderheit im litauischen Parlament (Rudolf Kinder – Wikipedia).

In den Sterberegistern von Salzgitter ergibt sich folgendes Bild: Von 1941 bis 1978 wurden im Standesamt Lebenstedt 14812 Todesfälle registriert, davon sind 453 evangelische Deutsche, die in Litauen geboren wurden, immerhin 3,1 Prozent. Ab 1979 führte das Standesamt Salzgitter Zentralregister für die ganze Stadt ein. Da in den anderen größeren Stadtteilen Salzgitter-Bad, Gebhardshagen, Thiede oder den kleineren Dörfern, welche zum Teil bis 1978 eigene Standesämter besaßen, anteilig deutlich weniger Litauendeutsche ihren Wohnsitz nahmen, sinkt in den Zentralregistern der prozentuale Anteil. Von 1979-1993 wurden im Sterberegister der Stadt Salzgitter 21073 Todesfälle vermerkt, davon sind 318 Deutsche aus Litauen (1,5 Prozent). Gesondert zu erwähnen wäre noch das Standesamt Watenstedt, nahe der Salzgitter AG, mit 61 Todesfällen von Litauendeutschen im Zeitraum von 1950 bis 1970 aus insgesamt 2774 Verstorbenen (2,2 Prozent).

Tabelle der Sterbefälle Salzgitter 1941-1993 (Stadtarchiv Salzgitter E 340 Personenstandsregister) mit den Anteilen der Deutschen aus Litauen:

StandesamtJahrSterbefälledavon Deutsche aus Litauendavon Suvalkijadavon Tauroggendavon restl. LitauenAnteil Deutsche aus Litauen
Lebenstedt19412510104,0%
Lebenstedt19425920203,4%
Lebenstedt19439520202,1%
Lebenstedt194410761505,6%
Lebenstedt1945213114705,2%
Lebenstedt194631475112,2%
Lebenstedt1947308118303,6%
Lebenstedt194822865102,6%
Lebenstedt194921775203,2%
Lebenstedt195012887016,3%
Lebenstedt195113153203,8%
Lebenstedt195211984316,7%
Lebenstedt195311363305,3%
Lebenstedt195410544003,8%
Lebenstedt195511784406,8%
Lebenstedt1956152115517,2%
Lebenstedt195718098105,0%
Lebenstedt1958340149414,1%
Lebenstedt195934895312,6%
Lebenstedt1960438128312,7%
Lebenstedt196143896302,1%
Lebenstedt196246098102,0%
Lebenstedt1963468149323,0%
Lebenstedt1964491127142,4%
Lebenstedt19655372115513,9%
Lebenstedt1966583158612,6%
Lebenstedt196764229161034,5%
Lebenstedt1968625167722,6%
Lebenstedt19696472518613,9%
Lebenstedt1970633146802,2%
Lebenstedt1971770138501,7%
Lebenstedt1972662169612,4%
Lebenstedt1973694139401,9%
Lebenstedt197468221111003,1%
Lebenstedt19756801913602,8%
Lebenstedt1976720125701,7%
Lebenstedt19776512417703,7%
Lebenstedt197869224141003,5%
Lebenstedt 1941-1978 gesamt14812453274157223,1%
SZ-Bad 1942-1978 gesamt1461647301430,3%
Watenstedt 1950-1970 gesamt277461342072,2%
übrige Dörfer 1941-1977 gesamt35212317330,7%
Salzgitter1979145426131031,8%
Salzgitter198014492116411,4%
Salzgitter198115202314541,5%
Salzgitter198214381913511,3%
Salzgitter198314022213811,6%
Salzgitter198413762615831,9%
Salzgitter1985136631171222,3%
Salzgitter1986133625131021,9%
Salzgitter19871318187921,4%
Salzgitter198813021712501,3%
Salzgitter19891288133911,0%
Salzgitter199013841812601,3%
Salzgitter199114802110921,4%
Salzgitter199215042110921,4%
Salzgitter199314561711601,2%
Salzgitter Zentral 1979-1993 gesamt21073318179115241,5%
Stadt Salzgitter 1941-1993 gesamt5679684953430961,5%

Noch ein Zahlenspiel, welches dem allseits in der litauendeutschen Familienforschungsgemeinschaft vorhandenen Eindruck, Salzgitter sei nach dem Krieg eines der, wenn nicht das Zentrum der Deutschen aus der litauischen Suvalkija geworden, etwas Beweiskraft geben könnte: Nach den bekannten Statistiken stammten 1941 etwa 18.000 Umsiedler aus folgenden Ortsbezirken, 4. Mariampol 2590, 5. Wilkowischken 3236, 6. Wischtyten 3806, 7. Kibarten 3483, 8. Neustadt 1.967, 9. Schaken (Stossun, Umsiedlungen, S. 139).

Wie viele davon kamen nach Salzgitter? Wenn man aus den Sterbefällen Salzgitter 1941-1993 (s.o.) von den Personen aus der Suvalkija die wenigen aus den Ortsbezirken 3 (Prienai) und 16 (Seirijai) abzieht, bleiben noch ungefähr 500 Personen. Da die Sterberegister wegen der Schutzfrist nur bis 1993 einsehbar waren, müssen wir die weiteren Jahre hochrechnen. Angenommen, in den folgenden Jahren wären jährlich weitere 5-10 Personen gestorben (Tendenz naturgemäß fallend), könnte man zurückhaltend geschätzt 150, vielleicht 200 oder mehr dazurechnen (bis heute leben Deutsche in Salzgitter und Umgebung, die noch in Litauen geboren sind).

Dazu kommen diejenigen, die zwar 1945 nach Salzgitter kamen, aber nicht auf dem Stadtgebiet gestorben sind, weil sie sich nach der Gründung einer Familie und Hausbau in einem der umliegenden Landkreise (Wolfenbüttel, Goslar, Peine, Braunschweig, Helmstedt) niederließen oder in einem der großen Krankenhäuser in Braunschweig verstarben. Darüber hinaus wanderten viele Litauendeutsche in den 1950er Jahren von Salzgitter nach Übersee aus (USA, Kanada, Brasilien und Australien). All solche Fälle kenne ich aus der eigenen Familie in nicht geringer Zahl.

Wenn man das alles hochrechnet, wären an die 1000 Menschen aus den oben angeführten Ortsbezirken nach dem 2. Weltkrieg nach Salzgitter gekommen, das sind mehr 5 Prozent der insgesamt 18.000 evangelischen Deutschen, die aus der Suvalkija stammen. Es erscheint plausibel, die Zahlen noch höher anzusetzen.

1950 hatte Salzgitter etwa 100.000 Einwohner, jeder zehnte etwa war ein geflüchteter Deutscher aus Litauen. Die Bundesrepublik Deutschland hatte 1950 ca. 68 Millionen Einwohner. Die oben genannten 18.000 Personen wären aufs gesamte Bundesgebiet gerechnet 0,03 Prozent. Der Eindruck, dass Salzgitter nach 1945 ein Schwerpunkt der litauendeutschen Gemeinschaft speziell aus der Suvalkija wurde, basiert also auf Fakten.

Die Namensliste ist über den IAGL-Online-Index durchsuchbar. Darüber hinaus sind die transkribierten Listen auf unserer Website veröffentlicht und können dort ebenfalls durchsucht werden:

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